Ich weiss, dass ich einen Fehler gemacht habe»
Doping gestand Rudy Pevenage nie, aber er leugnet es nicht
Ein Café in Brakel im ostflämischen Teil Belgiens, gegen Mittag. Rudy Pevenage, 55-jährig, sitzt bei einem Glas Weisswein, soeben hat er mit einem Kollegen des Teams Rock Racing die nächsten Rennen besprochen. Es ist sein erster Job im Radsport, seit er vor drei Jahren vom Team T-Mobile suspendiert wurde.
Christof Gertsch
Herr Pevenage, ab Sonntag finden die Ardennen-Classiques statt, letzte Woche waren die belgischen Classiques. Die Radsaison ist voll im Gang, die Flandernrundfahrt führte durch Ihren Wohnort Geraardsbergen. Wie verbrachten Sie den Tag?
Rudy Pevenage: Wir hatten in einem Schloss 250 Ehrengäste geladen. Das war schön . Ich schicke Ihnen gerne Bilder. Jan Ullrich war auch da.
Sie haben wieder Kontakt zu ihm?
Ja, seit dem Ende des Verfahrens gegen mich haben wir wieder sehr viel Kontakt (die Bonner Staatsanwaltschaft stellte das Strafverfahren gegen Pevenage Anfang März 2009 ein, d. Red.).
Hat er bei Ihnen übernachtet?
Drei Tage. Das war sehr schön.
Seit der Zeit beim Team Telekom gilt Pevenage als väterlicher Freund Ullrichs. Es heisst, Ullrich habe dem Belgier alles zu verdanken – auch den Tour-de-France-Sieg 1997. Im Zug der Operación Puerto wurde den zwei die Verwicklung in die Fuentes-Affäre nachgewiesen. Wenige Stunden vor dem Start zur Tour 2006 in Strassburg wurden sie vom Telekom-Team (damals: T-Mobile) suspendiert. Von Pevenage tauchten später belastende SMS-Nachrichten an den Dopingarzt Eufemiano Fuentes auf, von Ullrich wurden in der Praxis von Fuentes Blutbeutel identifiziert.
«Was hast du schon Schlimmes getan?»
Sie sind zurück im Peloton, seit einigen Monaten sind Sie Sportlicher Leiter beim US-Team Rock Racing. Wie kam es dazu?
Ich kam in Kontakt mit Michael Ball, dem Besitzer von Rock Racing, weil er im Herbst fragte, ob Jan wie Lance Armstrong an ein Comeback denke. Ich sagte Nein, flog mit Jan aber trotzdem nach Los Angeles. Ich erfuhr, dass Rock Racing einen Sportlichen Leiter suchte. So ging das.
Wie wurden Sie bei der Rückkehr begrüsst?
Das war im Februar an der Kalifornienrundfahrt, es war ideal. Alle Teams waren in nur zwei Hotels untergebracht. Ich konnte mit allen reden, alle redeten mit mir. Nur Bob Stapleton (Manager des Team-Telekom-Nachfolgers High Road, d. Red.) ging mir aus dem Weg, und Bjarne Riis (Manager des Teams Saxo-Bank, 1996 unter Pevenage Tour-Sieger, 2008 des Dopings geständig, d. Red.) war zurückhaltend. Das ist halt seine Art.
Sind Sie glücklich?
Ohne Michael Ball hätte ich nie die Gelegenheit zur Rückkehr in den Radsport erhalten. Er hat gesagt: «Was hast du schon Schlimmes getan? Du hast nicht mehr getan als all deine Kollegen.» Ich denke, er vertraut mir. Er sagte auch: «Was ist schon die Operación Puerto? Du bist ein Mensch wie jeder andere. Du hast vielleicht einen Fehler gemacht – aber deswegen ist dein Leben nicht zu Ende!» Dafür kann ich ihm nur danken.
Wäre es denn nicht besser gewesen, die Vergangenheit aufzurollen – und so neu anzufangen?
Ich glaube, dass ich keine zweite Chance erhalten würde, wenn ich das getan hätte.
Aber es gibt doch solche, die das getan haben, die heute wieder einen guten Job im Radsport haben.
Was haben die schon zugegeben! Sie wollten ihre Haut retten, nichts sonst. Aber darüber will ich nicht reden. Meine Familie und ich haben zwei Jahre sehr gelitten. Radsport ist mein Leben. Ich war 14 Jahre Profi und 18 Jahre Sportlicher Leiter. Ich habe riesige Erfolge gefeiert – warum soll ich das alles zunichtemachen?
Sagen Sie das so, weil alle andern dasselbe gemacht haben wie Sie?
Was haben die andern denn gemacht?
Das müssen Sie mir sagen!
Nein, eben nicht, ich habe nichts mehr zu sagen. Damals, das waren andere Zeiten. Ich habe lieber die Zeit von heute, das versichere ich Ihnen. Die Zeit damals konnte ich nicht ändern. Man dreht mit. Aber ich weiss auch, dass die Resultate der Besten so oder so gleich gut gewesen wären. Die ganz guten Fahrer hatten sowieso Klasse. Es war anders damals. Mehr sage ich nicht.
Rudy Pevenage ist ein Zeitzeuge der besonderen Art. Zur Hochzeit des EPO-Dopings in den 1990er Jahren und über den Jahrhundertwechsel war er einer der Hauptdarsteller des Radsports, als Sportlicher Leiter gewann er die Vuelta, die Tour, die WM, die Olympischen Spiele. Belastendes Material, belastende Aussagen gibt es zuhauf, trotzdem wurde er weder von einem Verband gesperrt noch von einem Gericht verurteilt. Daran merkt man: Im System Spitzensport gibt es keinen standardisierten Umgang mit Menschen wie Pevenage. Pevenage selber fand für sich einen Weg. Er streitet nichts ab, er gibt nichts zu. Er ist ein Kind des Systems, das betont er mehrmals.
«Ich nahm ab, ich hatte keine Kraft mehr»
Sind Sie heute ein anderer Mensch?
Ich bin stärker, auch als Teamchef. Man wollte mich kaputtmachen. Aber es gelang nicht.
Wie viel ist jetzt noch drin vom alten Radsport?
Es ist mir egal. Betrug lässt sich nie ausschliessen, auch in andern Sportarten nicht – und schon gar nicht im normalen Leben.
Spielen Sie auf die Humanplasma-Affäre an, die in Österreich zurzeit für viel Wirbel sorgt?
Im Radsport wussten viele schon vor drei Jahren, dass da in Wien ein Nest ist. Es wurde niemals darüber gesprochen, es war, wie sagt man?, ein offenes Geheimnis. Ich hatte auch davon gehört. Als ich von der Tour de France ausgeschlossen wurde, wusste ich, dass Fuentes nicht als Einziger in Spanien ein Netz gesponnen hatte. Es gibt solche Netze in Süditalien, es gibt sie in Österreich. Das wusste damals die Hälfte der Sportlichen Leiter, nur geredet wurde nicht darüber.
Finden Sie, Sie seien der Sündenbock?
Natürlich bin ich das. Einige wenige andere sind es aber auch.
Was machten Sie seit dem Rauswurf 2006?
Ich war nur zu Hause. Ich konnte nicht einmal mit den Menschen um mich herum reden, meine Telefone wurden abgehört. Es war schrecklich – ich nahm ab, ich hatte keine Kraft mehr. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal anders Geld verdienen müsste als mit Radsport. Der Radsport ist doch mein Leben. Deshalb bin ich jetzt glücklich. Egal, wie lange es unser Team gibt, diese Zeit jetzt, die kann mir keiner mehr nehmen. Meine Jungs bei Rock Racing meckern nicht, wenn zum Frühstück das Müesli fehlt oder wenn wir einmal nicht die richtige Übersetzung für steile Anstiege dabei haben. Bei ihnen fühle ich mich wohl. Ich habe gehört, dass beim früheren Team Once die Badewanne voll mit warmem Wasser war, als die Fahrer vom Rennen zurückkamen. Das ist nicht meine Welt.
Der Radsport, der so sehr die Erneuerung vorgibt, hat Pevenage wieder. Der US-Multimillionär Michael Ball hat ihn zurückgeholt. Ball leistet sich aus der eigenen Tasche ein finanziell kriselndes Team, dessen Marketingstrategie die Provokation ist. Das Signet ist ein Totenkopf, die Trikots sind rabenschwarz, und mindestens vier Fahrer waren nachweislich gedopt oder in Dopingaffären verwickelt: Tyler Hamilton, Oscar Sevilla, Francisco Mancebo, José Enrique Gutierrez. Nur Hamilton verbüsste die Schuld mit einer Sperre. Alle vier sollen wie Pevenage gute Bekannte von Fuentes gewesen sein, aber die Untersuchung wurde von der zivilen Justiz ohne Ergebnis beendet, weil in Spanien zum Zeitpunkt der Überführung kein Anti-Doping-Gesetz existierte.
Sie schreiben an einem Buch. Was steht drin?
Es ist voll mit schönen Erinnerungen. Es handelt nicht von Doping, das mag ich nicht.
Finden Sie es nicht gut, dass über die Vergangenheit geredet wird?
Es ist gut, dass es nun strenge Kontrollen gibt. Aber die müsste es auch anderswo geben, im Langlauf, im Biathlon, im Schwimmen, in der Leichtathletik. Sehe ich den Olympiafinal über 100 m Crawl, geniesse ich das, obwohl ich weiss, dass die Körper der Sportler nicht einfach gewachsen sind. Es geht mir wie den meisten Menschen. Sie wollen schöne Rennen sehen und sich freuen.
«Ich hoffe, Radsport bleibt mein Leben»
Obgleich sie wissen, dass nicht jeder sauber ist?
Stell dir vor, du bist ein Bub, 16-jährig, und du arbeitest auf dem Bau. Das gibt 1000 Euro pro Monat. Am Wochenende fährst du mit den Kumpels Rad, du bist talentiert. Du nimmst Vitamine, um stärker zu werden. Mit 20 bekommst du ein Angebot eines Radteams, der Verdienst ist eine Million im Jahr. Sagst du Nein? Natürlich nicht – dann kommt der Sponsor, er macht Druck via den Sportlichen Leiter, er will Resultate. Was willst du machen? Zurück auf den Bau? Du machst eben beim System mit. Aber es ist nicht dein System.
Haben Sie demnach nicht Angst, dass einer Ihrer Rock-Racing-Fahrer auffliegt?
Die meisten bei mir im Team hatten noch nie etwas mit Doping zu tun. Die andern, Gutierrez, Sevilla, Hamilton und Mancebo, haben so gelitten mit ihren Geschichten, dass sie Doping nie wieder anrühren. Sevilla lebt jetzt in Kolumbien auf 3000 Höhenmetern, er hat bessere Blutwerte als früher.
An den belgischen Classiques durfte Rock Racing nicht starten – aber Sie sahen sich die Rennen an?
Am Sonntag von Paris–Roubaix war ich beim Fest eines Freundes. Ich hatte mir versichern lassen, dass es dort einen Fernseher gibt. Am Tag der Flandernrundfahrt hatte ich mit den Gästen zu tun. Ich werde mir das Rennen aber einmal in Ruhe ansehen. Radsport ist mein Leben, und ich hoffe, Radsport bleibt mein Leben. Auch wenn ich weiss, dass ich einen Fehler gemacht habe.
Pevenage ist ein vorsichtiger Mensch. Dieses Interview liess er vom Anwalt gegenlesen. Darauf musste auf einige Ortsangaben und Namensnennungen verzichtet werden. Man weiss nie, was noch kommt.
http://www.nzz.ch/nachrichten/sport/aktuell/ich_weiss_dass_ich_einen_fehler_gemacht_habe_1.2409166.html